Projektarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Politik - Thema: Deutsche Außenpolitik, Note: 1,0, Freie Universität Berlin (Otto-Suhr.Institut für Politikwissenschaften), Veranstaltung: Projektkurs „Regieren, Regierungen, Regierungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland“, Sprache: Deutsch, Abstract: Es gehört zu einem zentralen Charakteristikum von Wissenschaft, dass diese nicht aus sich heraus und nicht für sich allein existiert. Wissenschaft und Gesellschaft bedingen und beeinflussen sich, ebenso wie sie miteinander kommunizieren. Veränderungen in Strukturen und Prozessen der Gesellschaft finden ihren Widerhall in deren Teilsystem Wissenschaft und je kräftiger die Impulse, umso stärker kann die Resonanz sein. Dass das Auseinanderfallen des östlichen Machtblocks am Beginn des letzten Jahrzehnts im zwanzigsten Jahrhundert die Sozial- und hier vor allem die Politikwissenschaften nicht unberührt lassen konnte, war daher bereits damals abzusehen. Und dass insbesondere die Analyse deutscher Außenpolitik betroffen sein würde, erschien vielen unzweifelhaft – versprach doch die Wiedererlangung der vollen Souveränität des vereinigten Deutschland eine Ausweitung und Intensivierung außenpolitischer Aktivität und damit auch eines lohnenden Forschungsfeldes. Fast siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung präsentiert sich die deutsche Außenpolitikforschung in vorher nicht gekannter Quantität. Doch nicht solche quantitativen Aspekte allein waren ursächlich dafür, dass sich das Ende des Ost-West-Konfliktes derart markant als Scheidepunkt deutscher Außenpolitikforschung manifestieren konnte. Dies wiederum war nur für die wenigsten vorhersehbar. Denn wenn auch die Wirkungsmacht realhistorischer Einflüsse nicht zu unterschätzen ist, wurde sie im konkreten Fall von wissenschaftshistorischen und disziplinspezifischen überlagert und verstärkt. Bereits vor dem Zusammenbruch des östlichen Machtblocks begann in ontologischer, epistemologischer und methodologischer Hinsicht ein Nachdenken über ‚Außenpolitik’, das die bis dato primär innerhalb des historisch-deskriptiven und rationalistischen Paradigmas angesiedelten Zugänge wesentlich bereicherte. In diesem Sinne folgte dieser Teil der politikwissenschaftlichen Forschung nur konsequent der „interpretativen Wende“ in anderen Sozialwissenschaften, wo inzwischen vor allem post-rationalistische Ansätze die wissenschaftliche Debattenlandschaft nachhaltig verändert hatten. Die zentrale analytische Leistung der neueren Ansätze in der Außenpolitikforschung ist, dass sie weder Strukturen noch Akteure als ontologische Grundeinheiten bedingungslos voraussetzen, sondern von der Annahme ausgehen, dass sich diese gegenseitig determinieren. In diesem Duktus bedeutet Kodetermination dann, dass Strukturen einerseits konstitutiv für Akteure und deren Interessen sind, andererseits Akteure durch ihr Handeln diese Strukturen permanent reproduzieren und stabilisieren, aber auch verändern können. Die Kernaussage lautet demnach: Strukturen sind sozial konstruiert und veränderbar. Sie konstituieren sich durch soziale Praxen und die Sinninterpretationen der Akteure. Diese Sichtweise tritt endgültig ihren Siegeszug nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes an. Und hier schließt sich der Kreis zwischen wissenschaftshistorischen und disziplinspezifischen sowie realhistorischen Entwicklungen. Denn gerade die Auflösung des Ostblocks war durch die rationalistische Forschung so nicht erklärbar. Postrationalistische Perspektiven hatten es mit ihrer Betonung der Veränderlichkeit und der historischen Kontingenz sozialer Strukturen da schon einfacher. Für die deutsche Außenpolitikforschung führten diese Entwicklungen im Laufe der 1990er-Jahre zu einem Paradigmenwechsel hin zu einer stärker theoriegeleiteten Analyse. Im Unterschied zu eher systemisch ausgerichteten, historisch-deskriptiven Zugängen deutscher Außenpolitikforschung vor 1990 standen nun primär subsystemische – also innergesellschaftliche – Erklärungsvariablen im Mittelpunkt, jedoch ohne dass systemische Einflüsse negiert worden wären. Zentral ist diesen meist konstruktivistisch und pragmatistisch ausgerichteten Ansätzen eben jene gegenseitige Bedingtheit von Strukturen und Akteuren. Analysiert werden etwa Bürokratien und deren inhärente Entscheidungsprozesse, die öffentliche Meinung zur Außenpolitik, außenpolitische Kulturen und Diskurse oder kollektive Identitätsvorstellungen. Demgegenüber stehen etwa mit der Analyse von Entscheidungsmustern außenpolitischer Entscheidungsträger oder deren individuellen Denk- und Weltbildern primär akteursbezogene Untersuchungen. Roter Faden der Forschung ist die Suche nach Kontinuitäten und Brüchen deutscher Außenpolitik. Und wenngleich immer wieder davon gesprochen wird, dass das ‚grand design’ der außenpolitischen Linie Deutschlands nach 1990 auffällige Kontinuitäten zur Außenpolitik der Bonner Republik aufweist, können doch vor den zahlreichen ‚Neuerungen’ im außenpolitischen Verhalten der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung die Augen kaum verschlossen werden. Zahlreich sind daher die Aussagen, die in Politik und Wissenschaft von einem ‚neuen deutschen Selbstbewusstsein’, von ‚außenpolitischer Normalität’ und ‚gestiegener Verantwortung’ oder gar von einer ‚neuen deutschen Außenpolitik’ ganz allgemein sprechen. Offensichtlich wird dies angesichts der Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr. Bestand deren Aufgabe bis 1990 allein darin, innerhalb der NATO ihren Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten, stellt sie mittlerweile nach den USA weltweit das zweitgrößte Truppenkontingent in Konfliktgebieten. Allein seit 1998 sind mehr als 100.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen in Out-of-Area-Einsätze auf drei Kontinenten geschickt worden. Abgesehen von den Bündnisgrünen wurden die Auslandseinsätze der Bundeswehr in kaum einer anderen Partei derart kontrovers diskutiert wie in der SPD. Noch am Anfang der 1990er-Jahre waren zahlreiche Sozialdemokraten selbst gegen Blauhelmeinsätze unter UNO-Mandat, lehnten also jedweden Einsatz deutscher Soldaten außerhalb der NATO-Bündnisverpflichtung ab. In einem dann folgenden graduellen Prozess veränderte sich die Haltung der SPD derart, dass es letztendlich eine Regierung unter einem sozialdemokratischen Kanzler war, die erstmalig für Kampfeinsätze (Kosovo und Afghanistan) deutscher Soldaten im Ausland optierte. Der Kosovo-Konflikt (1999) ist dabei nicht nur mit dem endgültigen Abschied von der militärischen Zurückhaltung der alten Bundesrepublik gleichzusetzen, er fand zudem auch ohne ein bis dahin für unerlässlich gehaltenes UNO-Mandat statt. Mit ihm hat die Bundeswehr heute die gesamte Einsatzbreite vom reinen Blauhelmeinsatz über den robusten Einsatz zur Friedenssicherung bis hin zum Kriegsauftrag abgedeckt. Innerhalb von nur etwas mehr als einem Jahrzehnt hatte sich die SPD von einer Partei, die militärischen Auslandsengagements in hohem Maße skeptisch oder sogar fundamental ablehnend gegenüber stand, zu einer entwickelt, die Bundeswehrangehörige erstmalig in gleich zwei Kampfeinsätze entsandte. Vor diesem Hintergrund wird sich die folgende Analyse mit der Frage befassen, welche Ursachen dafür maßgeblich waren, dass die SPD diese Entwicklung genommen hat.
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