Magisterarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: Sehr gut, Universität Konstanz (Fachbereich Literaturwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Am 15. Juli 1922 schildert Rainer Maria Rilke seiner Brieffreundin Margot Gräfin Sizzo-Noris-Crouy den Staatsbesuch des vietnamesischen Kaisers in Frankreich: Haben Sie gelesen, mit welchen Worten kürzlich der Kaiser von Annam, Khai-Dinh, das Wesen des französischen Geistes neben dem seines Volkes ausgewogen und, in orientalischer Anmut, gerühmt hat. Er sagte, in Paris: ‚Vous êtes une grande idée vivante, active, créatrice et féconde. Nous sommes une grande idée mélancolique et calme s’attachant avec charme au culte du Passé’ – ists nicht herrlich? Und wie wäre die Welt zu harmonisieren, wenn Völker sich einander so zugeben wollten, jedes zu seiner Art und der des anderen ehrfürchtig und staunend zugestimmt. Rilke nimmt den Bericht über ein realpolitisches Ereignis zum Anlass, die Frage nach den Möglichkeiten internationaler Koalitionen zu stellen. Dazu werden die Worte des Kaisers – die aus pragmatischer Sicht wohl eher Ausdruck diplomatischen Kalküls waren – für ein gesamtgesellschaftliches Zukunftsmodell in Anspruch genommen, das sich auf die vollständige symbiotische Harmonisierung und Gleichberechtigung politischer Einzelakteure richtet. Voraussetzung und Muster einer solchen – staatenübergreifenden – Allianz bildet dabei zunächst die explizite Artikulation einer nationalen Homogenität, die en miniature jene kulturellen Praktiken sichtbar werden lässt, die auch für die Konstituierung eines weltumspannenden Gemeinschaftssinns erforderlich zu sein scheinen. So heißt es weiter im besagten Brief: Dazu [zur Harmonisierung der Welt] freilich ists not, daß man die Art rein erkenne, ja daß mans – ach – zur Art bringe und, und in der Mitte der Art, zur Idee! Bedingung für internationale Harmonisierung ist demnach ein Bewusstsein eigener ‚Art’. Dass sich eine solche Vorstellung nationaler Spezifik indes nicht als außermaterielle Transzendenz, sondern als imaginärer Bezirk erweist, der – das zeigt die Raumsemantik („in der Mitte“) unmissverständlich an – topisch beschritten und damit artikulatorisch zugänglich gemacht werden will, wird durch die Tatsache erhellt, dass es sich bei der kollektiven Identität offensichtlich um eine aktive Suchbewegung handelt, die von der Gemeinschaft um ihrer eigenen Selbstbeschreibung willen auszugehen hat. Die Eigenheit einer gemeinschaftlichen Idee vermag sich offenbar nicht unter Rückgriff auf einen metaphysischen Ursprung zu legitimieren sondern bleibt auf die imaginären Praktiken des Systems selbst angewiesen.